Im Südosten Europas gehen derzeit zehntausende, ja hunderttausende Menschen auf die Strasse und verschaffen ihrem Unmut Luft. Ein frischer Wind hat die erweiterte Balkanregion erfasst. In Belgrad, in Budapest, in Bukarest, in Istanbul und – wenn wir die Türkei als europäisch verstehen – in Ankara artikuliert sich die ausserparlamentarische Opposition auf den Strassen, auf den Plätzen, in den Social Media. In den 35 Jahren seit dem Mauerfall haben die Menschen Demokratie gelernt. Sie nehmen ihre politische Partizipation ernst, sie behaften ihre Staatslenker auf die Wahlversprechungen und den Rechtsstaat auf seine Prinzipien. So wollten das die Verfassungen und die Väter Europas.
Unseren Medien ist es offenbar ein Anliegen, die westliche Bevölkerung darüber zu informieren. Sie berichten über Grossdemonstrationen in Belgrad, die sich gegen Staatspräsident Vucic richten. Wir erfahren, wie Korruption in dessen Regime um sich gegriffen habe und wie gewaltsam das Vorgehen der Sicherheitsorgane sei. Berichtet wird sogar über marginale Demonstratiönlein, die in Ungarn Victor Orban in Zweifel ziehen. Und unsere Medien sind an erster Stelle dabei und rufen: Demokratie! Demokratie! wenn der Türke Erdogan seinen aussichtsreichen Gegenkandidaten kurzerhand ins Gefängnis steckt. Ja, es ist wichtig, dass wir das alles erfahren.
Aber niemand schreibt über Rumänien. Wenn wir beispielsweise bei der NZZ die Suchfunktion aufrufen und «Rumänien» als Begriff eingeben, dann erscheint als jüngster Artikel ein Text vom 11. März 2025; der zweitjüngste geht auf den April 2024 zurück. Und wie ist es mit den Öffentlich-Rechtlichen? Erinnern Sie sich an einen Tagesschau- oder Tagesthemen-Bericht über Rumänien oder einen Hintergrundbericht in einem Format wie dem Auslandsjournal? Kaum.
Deshalb schreibe ich über Rumänien. Weil es wichtig ist, dass wir auch das erfahren.
Was dort derzeit stattfindet, legt die Heuchelei unserer Politiker und Medien schonungslos offen. Das gebetsmühlenmässige Herunterleiern des Hohelieds auf Freiheit, Demokratie und das eigene Gutmenschentum kann kein Mensch mehr ernst nehmen. Wohin man schaut, sieht man blinde Flecken, tote Winkel und eine grauenhafte Doppelmoral. In Ländern, wo – nach Auffassung der EU – die Bevölkerung zu dumm ist, die Richtigen zu wählen, winkt Brüssel nicht mit der Fahne der Demokratie, sondern mit dem Zaunpfahl. Beispielsweise in Rumänien, dem Armenhaus Europas.
Dort haben am 24. November letzten Jahres Parlamentswahlen stattgefunden. Überraschenderweise wurden sie von einem gewissen Calin Georgescu gewonnen, nämlich mit 23 Prozent aller Stimmen. Georgescu ist formell parteilos, gehört ideell aber einem nationalistischen Mitte-Rechts-Bündnis an. Das ist nicht für einen Regierungschef nicht statthaft. Georgescu ist USA- und EU-kritisch, überdies ein Gegner der unablässigen Aufrüstung der Ukraine und stellt sich gegen das Narrativ vom nimmersatten Aggressor Putin. Dass er als Staatspräsident in der EU die kritische Opposition um Orban (Ungarn), Dudic (Serbien) und Fico (Slowakei) verstärkt hätte, machte ihn zur persona non grata. Geht gar nicht, sagt Frau von der Leyen in Brüssel. Demokratie ist ja gut und recht, aber natürlich gilt die Einheitsmeinung.
Geht überhaupt nicht, sagte im letzten November auch Joe Biden. Rumänien ist ein enger Vertrauter der USA. Seit 9/11, seit dem Afghanistan-Feldzug und dem Irak-Krieg 2003 ist die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten geradezu intim geworden. Nur hinter vorgehaltener Hand darf darüber geflüstert werden: Weil sich in der amerikanischen Verfassung einige Artikel finden, die das Foltern von Gefangenen verbieten, hat die CIA vor 25 Jahren einschlägige Tätigkeiten ins Ausland verlegt, so auch nach Rumänien. Dort durfte feucht-fröhlich dem Water-Boarding gefrönt werden, wenn man im Kampf gegen den Terrorismus grad einen Erfolg brauchte. Überdies hat seit dem Ukraine-Krieg die geostrategische Lage Rumäniens eine starke Aufwertung erfahren. Vom grössten Luftwaffenstützpunkt der USA bei Constanta bis zur Krim sind es 400 Kilometer. Ideal für die Positionierung von Mittelstreckenraketen, die auf Moskau gerichtet sind und deren Geschosse mit null Vorwarnzeit ihr Ziel erreichen würden.
Dass unter diesen Umständen Georgescu nicht Staatspräsident werden konnte, kann nur den letzten Mohikaner überraschen, der immer noch glaubt, in der westlichen Rhetorik gehe es tatsächlich um Demokratie und Freiheit. Nach ein paar Telefonaten aus Brüssel hat das rumänische Verfassungsgericht die Wahlen vom November postwendend kassiert. Begründung: Von Russland gesteuerte Aktionen auf Social-media-Kanälen hätten das Ergebnis beeinflusst. Georgescu sei ein «Tiktok-Kandidat». Beweise: keine.
Die Wahlen sind jetzt auf den 4. Mai 2025 neu angesetzt. Zwischenzeitlich ist Georgescu festgenommen worden (wie in der mittelalterlichen Rechtsprechung, als man dem Delinquenten zuerst einmal die «Instrumente» zeigte…). Begründet wurde die Inhaftierung mit Finanzdelikten. Beweise: keine. Inzwischen wurde Georgescu von der Wahl ausgeschlossen. Berufungsmöglichkeiten: keine. Einer zweiten Kandidatin aus dem rechten Lager namens Diana Sosoaca wurde die Kandidatur ebenfalls gestrichen. Dagegen hat das Wahlbüro über George Simion, Chef der grössten rechtskonservativen Partei AUR, keinen Bann verhängt. Offenbar konnte hinter den Kulissen mit ihm eine Einigung erzielt worden.
In den USA hat seit der neuen Präsidentschaft der Wind gedreht. Als Vizepräsident J.D. Vance vor Wochen an der Münchner Sicherheitskonferenz den Europäern in Sachen Demokratiedefizit die Kappe wusch, hat er Rumänien gemeint. Aber weil bei uns über die rumänischen Verhältnisse so gut wie gar nicht berichtet wird, kann es gut sein, dass die versammelten Sicherheitschefs der westlichen Welt gar nicht verstanden haben, wovon die Rede war.
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