1916, mitten im Ersten Weltkrieg, stand bereits fest, dass das Osmanische Grossreich, jahrhundertelang Beherrscher der Levante, den Krieg verlieren würde. Also zögerten die europäischen Mächte nicht mit diplomatischen Schritten, um das sich abzeichnende Vakuum zu füllen. Franzosen und Engländer rissen sich den Raum, der heute Libanon und Syrien heisst, unter den Nagel. Das ging so: Die beiden Mächte wiesen ihre Diplomaten an, François Georges-Picot und Mark Sykes, den ansässigen Arabern Autonomie und Selbstbestimmung zu versprechen, wenn sie Frankreich und Grossbritannien im Kampf gegen die Türken unterstützen würden. Insgeheim aber teilten die beiden Grossmächte ihre Ansprüche in einem Geheimprotokoll auf. Als der Krieg zu Ende war, erinnerte sich niemand an die gegebenen Versprechen. Die Syrer, die Libanesen, die Iraker, die Kurden wurden fallen gelassen wie heisse Kartoffeln. Die Franzosen und Briten waren die Herren der Levante.
Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 ruft sich angesichts der aktuellen Entwicklungen ins Gedächtnis. In Syrien hat sich in rasender Geschwindigkeit eine Revolution vollzogen. Vom Moment, als wir erstmals von den Aktivitäten der „Rebellen“ hörten, bis zu Sturz und Flucht des Diktators Assad vergingen keine drei Wochen. Niemand weint diesem Schlächter und Menschenverächter eine Träne nach. Dennoch sollten wir uns nicht täuschen. Hoffnungen auf baldige demokratische Strukturen sind verfehlt. Niemand weiss, was aus der syrischen Revolution wird. Wir wissen nur, dass ein Staat eine neue Identität sucht.
Anstatt Syrien in diesem wichtigen Prozess zu unterstützen, kommen aber – wie im Ersten Weltkrieg – von den Staaten des Westens ganz andere Impulse. Sie präsentieren uns ein Panoptikum des Eigennutzes. Jeder versucht, auf seine Art zu profitieren.
Beginnen wir mit den Rechtspopulisten. Keine 24 Stunden dauerte es, bis sie ihre Forderung in die Parlamente trompeteten, jetzt sei es aber höchste Zeit, dass die syrischen Flüchtlinge die Gastfreundschaft ihrer Beherbergungsländer nicht länger strapazierten, sondern flugs die Heimkehr antreten sollten. Der Präsident der SVP hängte dieser Forderung sogar noch ein „Aber subito!“ an. Wie wenn alle Syrer, die nach Europa drängten, vor Assad geflohen wären! Hunderttausende flüchteten vielmehr vor den Horden der Taliban, die den Islamischen Staat ausgerufen hatten und von denen unbeschreibliche Greueltaten überliefert wurden. Wer aber vor dem IS flüchtete, zählte zum aufgeklärten Teil der Syriens, zu den Gutausgebildeten, denen in der Folge die Integration in die westliche Gesellschaft gelang. 6000 Ärzte aus Syrien sind seither in der Bundesrepublik Deutschland tätig, nebst einer noch viel grösseren Anzahl in der Krankenpflege. Die wollen wir jetzt zurück verfrachten? Das Gesundheitswesen würde zusammenbrechen, nicht nur in Deutschland.
Ebenso interessant ist die Sprachregelung, die wir in den Mainstreammedien beobachten. Erst war von „Rebellen“ die Rede. Mittlerweile hat man ihnen einen Namen gegeben. Sie heissen jetzt „HTS“ (kurz für das syrische Milizbündnis Hai’at Tahrer asch-Scham) und stehen offenbar unter dem Kommando eines gewissen Mohammed al-Dscholani, von dem wir ein übers andere Mal lesen, wie gut erzogen und gebildet er sei und wie gemässigt sich seine Kämpfer verhielten. Wir würden noch so gerne glauben, dass, für einmal, Bildung ein Mittel gegen Barbarei wäre! Aber – nicht in den Zeitungen und auch nicht in den öffentlich-rechtlichen Medien – bereits gibt es Gegeninformationen, die keineswegs auf Mässigung und auf eine geordnete Justiz hindeuten. Was wird mit all den Minderheiten, den Kurden, Drusen, Christen etc., wenn sich die islamistischen Splittergruppen erst einmal in ihren Regionen verselbständigt haben? Und was wird mit den Rechten der Frauen?
Die vorauseilende Weisswaschung der Islamisten ist also wieder angesagt. Wie immer, wenn es den Interessen der USA entspricht. Das Pentagon tut nämlich nur so, als seien die Islamisten der Todfeind. In Tat und Wahrheit unterhält man zu ihnen eine Art On-Off-Beziehung, je nach Grosswetterlage. Kaum zeigt sich die Chance, einem gemeinsamen Feind eins auszuwischen, liebt man die Taliban heiss, macht ihnen den Hof und rüstet sie auf. Das begann in den 70er-Jahren in Afghanistan, als der CIA sie instrumentalisierte, um die UdSSR in einen hässlichen Abnützungskrieg zu verwickeln. Es wiederholte sich, als man im Irak Saddam Hussein aufrüstete, damit dieser gegen den Iran Khomeinis Krieg führen konnte. Was aber für den CIA längst kein Grund war, nicht auch mit dem Iran in Waffenschiebergeschäfte zu treten. Aber Mal für Mal führten die strategischen Planspiele zu Eigentoren, indem die Islamisten mit westlichen Waffen und amerikanischem Know-how gegen die USA selbst zurückschlugen, wenn es gerade passte, wie beispielsweise bei 9/11. Worauf die USA erneut zurückschlugen. Es kostete eine Million Menschenleben in Afghanistan und im Irak.
Neuerdings hat man sich also wieder lieb. Von ukrainischen Militärs vernehmen wir, sie seien es, welche den HTS ausgerüstet und ausgebildet hätten. Was ist davon zu halten? Es würde bedeuten, dass amerikanische und europäische Finanzhilfen durch die Ukraine hindurch zu den syrischen Rebellen geflossen seien, um den Russen zu schaden.
Viel Spekulation, gewiss. Aber dass eine Revolution wie die syrische, die sich, nebst Assad, auch gegen dessen Unterstützer Russland und Iran richtete, ohne USA und Israel abgelaufen sein soll, glaubt niemand. Es würde jedem historischen Muster widersprechen. Israel nutzt die Chance, sich zur westlichen Grossmacht in der Levante aufzubauen. Hamas ist zerstört, Hisbollah ebenso, Gaza eingeäschert, der Süden Libanons kaputt. Jetzt bombardiert man Stellungen der syrischen Armee, richtet eine Pufferzone ein und lässt die Soldaten als Besatzungstruppe dort stehen. Der CIA nimmt es mit dem Fernglas zur Kenntnis. So wie im Ersten Weltkrieg die Franzosen und die Engländer.
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