Neue Töne gab’s am Nationalfeiertag am letzten Sonntag zu vernehmen: Gehörte es traditionell zum Muster der 1.-August-Reden, dass im Rütlischwur-Gedenk-Modus das Lob der Einigkeit besungen wurde («Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr»), so war dieses Jahr bei den Rednern der SVP das Gegenteil der Fall. Der Präsident jener Partei, die sonst wie keine andere den Einigkeitspsalm der Altvorderen nachbetet, verstösst gegen alle Regeln von Tradition und Anstand und beschwört die Spaltung, nämlich jene zwischen Land und Stadt.
Aha! Ein Wink mit einem neuen Schlagwort wie mit einem Zaunpfahl: Identitätspolitik! Auf Teufel komm raus wird sie jetzt von der SVP befeuert, ohne Rücksicht auf Verluste. Städter seien Schmarotzer zu Lasten der ländlichen Bevölkerungsteile, die «links-grün regierten Städte seien Weltmeister im Geld ausgeben, das sie nicht verdient» hätten. Nur dank Querfinanzierung durch die Landbevölkerung könnten sie sich ihren «urbanen Life-Style überhaupt leisten».
Marco Chiesa, aktuelle Führungsfigur der Volkspartei, war nicht der Einzige, der in dieses Horn tutete. Thomas Aeschi – immer zugegen, wenn die politische Debatte in die niedrigsten Bereiche absteigt – liess per Twitter an seiner Rede «Wider die Arglist unserer Zeit» (eine Formulierung, die er direkt dem Bundesbrief von 1291 entnommen hat) teilhaben. Auch hier ist die Rede von «linksgrünen Wohlstandsverwöhnten» in den Städten, wo «Illegale und Kriminelle gehätschelt» würden – und was dergleichen Stumpfsinn mehr ist. Beider These ist faktisch unhaltbar; die Zahlen sowohl des schweizerischen wie auch des innerkantonalen Finanzausgleichs belegen unbestechlich das Gegenteil. 2019 wurde im Nationalrat eine Korrektur des Finanzausgleichs zugunsten der ländlichen Kantone abgelehnt, unter anderem dank der Stimme von Herrn Chiesa...
Es handelt sich um nichts anderes als um Denkschablonen aus dem Bilderkatalog des Mythos Schweiz, die von der SVP-Spitze jetzt im Zuge von Identitätspolitik instrumentalisiert werden. Albrecht von Haller hat in seinem Hymnus «Die Alpen» (1729) die These in die Welt gesetzt, dass jede verfeinerte Lebensart unschweizerisch sei. Gletschermilch trinken und hartes Brot kauen, suggeriert Haller, sei Ausdruck unseres Nationalcharakters, unserer Identität. Schiller hat diesen Gedanken in seinen «Wilhelm Tell» übernommen und populär gemacht. Wahrer wird er dadurch nicht. Die Herren Chiesa und Aeschi sehen sich offenbar in der Tradition von Haller und Schiller. Schwingen und Steinstossen im Sport, Schwyzerörgeli und Hudigägeler in der Kultur, das reicht. Was brauchen wir hochsubventionierte Musentempel in den Städten mit Inszenierungen, die eh keiner versteht.
Die Duplizität der Ansätze in beiden Reden legt nahe, dass es eine Instruktion gab. Wo mag das Briefing wohl hergekommen sein? Von Christoph Blocher? Dass aus Herrliberg mindestens ein Placet zu der Spaltungsrhetorik erfolgte, kann angenommen werden. Aber wer immer der eigentliche Spin-Doktor gewesen sein mag – völlig klar ist, woher dieser die geistigen Anleihen bezogen hat: Aus Mar-a-Lago, Florida, von Donald Trump. Keiner traktiert die Klaviatur, gesellschaftliche Gruppierungen gegeneinander auszuspielen, so virtuos wie der Lügenbaron aus dem amerikanischen Rentnerparadies. Divide et impera, teile und regiere! Nichts deutet daraufhin, dass er verzichten könnte, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wieder dabei zu sein. Und nichts, dass wir uns dann nicht auf das Schlimmste gefasst machen müssen.
Trumps Beispiel machte Schule. Die Rechtspopulisten aller Länder, von Brasilien bis Ungarn, erweisen sich als lernbegierige Stifte. Und jetzt, ausgerechnet zum Nationalfeiertag, reihen sich also auch der Präsident und der Fraktionschef der SVP in dieses Glied ein. Offenbar ist das ihr Verständnis von Fortschritt.
Aber während wir bezüglich Trump, Bolsonaro, Orban und Konsorten, bis hin zu Chiesa und Aeschi, ohne Hoffnung sind, so dürfen wir doch annehmen, dass die Strategen der SVP die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben – das heisst: ohne die Bevölkerung der Schweiz. Denn damit der Spaltungstrick mit der Beschwörung einer vermeintlich ländlichen Identität den beabsichtigen Erfolg haben könnte, braucht es nicht nur die bei Trump entlehnte Rhetorik, es bräuchte auch ein Publikum, das unaufgeklärt genug wäre, sich selbst mit dem zu verwechseln, was die Führungsriege der SVP dafür hält. Und hierin sind wir zuversichtlich. Auch wenn es gelingen kann, ein paar Versprengte, potentielle Wähler aus ländlichen Bereichen, ins SVP-Lager zu treiben, wagen wir trotzdem die Aussage, dass die Strategie mit dem Appell an die niedersten Instinkte in der Schweiz nicht verfängt. Was auch immer unser Nationalcharakter sein mag – den 1. August zu nutzen, um Keile zwischen Bevölkerungsgruppen und kulturelle Identitäten zu treiben, ist nicht unser Ding.
Nicht alles, was aus den USA kommt, ist erstrebenswert, und vor allem ist nicht alles bei uns tauglich, was dort verfängt. Offenbar nimmt die SVP-Spitze in ihrer trumpistischen Verblendung nur noch die Claqueure in ihrer nächsten Umgebung wahr und erkennt gar nicht mehr, wie weit sie sich von einer Mehrheit entfernt hat, die immer noch der Vernunft zugänglich ist. Hier ein bisschen in sich zu gehen, wäre ein äusserst sinnvoller Beitrag der Herren Chiesa und Aeschi zur Identitätspolitik – nicht zu dieser der Bevölkerung in den ländlichen Regionen der Schweiz, sondern zu jener ihrer Partei.
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